Halt finden - Kreuzkirche Lüneburg

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Halt finden

Vision

Lukas 11, 9 Und ich sage euch auch: Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan. 10 Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan....14 Und er trieb einen Dämon aus, der war stumm. Und es geschah, als der Dämon ausfuhr, da redete der Stumme, und die Menge verwunderte sich....17 Er aber kannte ihre Gedanken und sprach zu ihnen: ... 20 Wenn ich ... durch den Finger Gottes die Dämonen austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen.... 24 Wenn der unreine Geist von einem Menschen ausgefahren ist, so durchstreift er dürre Stätten, sucht Ruhe und findet sie nicht; dann spricht er: Ich will wieder zurückkehren in mein Haus, aus dem ich fortgegangen bin. 25 Und wenn er kommt, so findet er's gekehrt und geschmückt. 26 Dann geht er hin und nimmt sieben andre Geister mit sich, die böser sind als er selbst; und wenn sie hineinkommen, wohnen sie dort, und es wird mit diesem Menschen am Ende ärger als zuvor.

Liebe Gemeinde,
ich habe in den vergangenen Jahren im Koran gelesen und mich mit dem Islam als Religionsgemeinschaft beschäftigt. Dabei habe ich eines entdeckt, was mich anspricht: das öffentliche Gebet, zu dem dermu'adhdhin (Muezzin) aufruft ... oben vom Minarett. Fünf Mal am Tag zu beten, das ist eine gute und stärkende Tradition. Warum?
Ich möchte antworten, indem ich ein kleines Erlebnis schildere. Meine Frau und ich hatten einen Termin bei einem Hamburger Motorradhändler in Hamburg Hamm-Süd, Hammer Deich 70. Aber weil wir zu früh da waren, mussten wir etwas Zeit überbrücken. Wir parkten in der Nähe, in der Süderstraße, und schlenderten die Straße entlang bis zum Osterbrookplatz. Dort sahen wir eine Art Stadtteilhaus oder eine kulturelle Begegnungsstätte, deren Namen ich jetzt nicht mehr erinnere. Wir schauten uns die Angebote dieser Begegnungsstätte im Schaukasten an. Wir fanden neben verschiedenen Gruppenangeboten den Merksatz:Wer innehält, findet innen Halt. Eigentlich kenne ich diesen Satz schon sehr lange, aber vor dem Schaukasten dieses Stadtteilhauses stehend speicherte sich dieser Satz tief in meinem Geist ab. Ich wusste, ich müsste ihn nicht aufschreiben. Er würde in mir präsent bleiben. Und so war es auch.
Es ist richtig: Wer innehält, findet innen Halt. Darum ist es eine gute und stärkende Tradition, fünf Mal am Tag zu beten. Denn Beten ist ja Innehalten. Und stellen Sie sich vor, wir würden fünf Mal am Tag alle zusammen beten. Auch öffentlich wie in islamischen Ländern. Dann würden wir fünf Mal am Tag erleben, wie wir und alle anderen innehalten. Es wäre ein schönes gemeinschaftliches Erlebnis in einer gesellschaftlichen Situation, in der fast jeder allein unterwegs ist. Die Handys würden mal 5 Minuten abgeschaltet und stumm bleiben. Und wir könnten uns mit innerem Halt stärken, indem wir in Berührung kämen mit dem, was wir wirklich denken und fühlen. Und wir könnten unsere Gedanken und Stimmungen Gott hinhalten mit der Zuversicht: Wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan. (Luk 11,9) Wer beim Beten Halt sucht, findet Halt. Wer um Orientierung und Klarheit bittet, dem wird Orientierung und Klarheit gegeben. Wer an seine Herzenstür klopft und sich fragt, was sind meine wichtigen Wünsche, dem wird die Sicht auf seine wahren Wünsche aufgetan. Und wer nicht gläubig ist in unserer Gesellschaft, macht trotzdem mit. Denn Innehalten muss ja kein Gebet sein, sondern nur eine stille Besinnung und innere Zentrierung.
Ich kann mir vorstellen, dass jetzt die wirtschaftsliberal Denkenden unserer Gesellschaft sagen: Aber das geht ja gar nicht: Dass alle zusammen fünf Mal am Tag sich besinnen oder beten. Wirtschaftsbetriebe müssen möglichst frei bleiben von Vorschriften. Wir haben schon viel zu viele Regularien. Das hemmt den wirtschaftlichen Aufschwung und die Gewinne der Unternehmen.
Diesen Aber-das-geht-nicht-Einwand möchte ich entkräften. Nicht theologisch. Sondern ich verweise hier auf ein Unternehmen, das nicht nach wirtschaftsliberalen Prinzipien geführt wird. Es ist das kanadische Unternehmen DLGL. Es wurde mehrfach zum besten Arbeitgeber Kanadas gewählt und konkurriert mit so großen Weltkonzernen wie SAP. Wir reden hier in Bezug auf DLGL von einem TOP-Unternehmen. Es ist ökonomisch aufgebaut auf drei Säulen. Erstens einem leistungsfähigen Produkt. Dieses Produkt gehört in die Softwarebranche. Zweite Säule: Volle Zufriedenheit für die Arbeitnehmer. Dritte Säule: Volle Zufriedenheit für die Kunden. Die Überzeugung des Firmeninhabers Jacques Guennette ist: Wenn es den eigenen Arbeitnehmern und den Kunden sehr gut geht, geht es automatisch auch dem Unternehmen sehr gut. Diese Überzeugung ist der Grund seines Erfolgs. Die Arbeitnehmer dürfen so viel Urlaub nehmen, wie sie brauchen. Ihre Wochenarbeitszeit von 35 Stunden wird nur zu Zweidrittel fest verplant. Ein Drittel wird frei gehalten für Krisenbewältigung und kreative Lösungsfindungen. Die Arbeitnehmer können in ihrer Arbeitszeit Sport treiben. Und so weiter ... . Ich führe jetzt nicht alle Errungenschaften dieses Unternehmens auf, die zum Erfolg geführt haben. Ich will darauf hinaus: Wenn die Arbeitnehmer sagen würden, wir wollen ein paar Mal am Tag gemeinsam innehalten, dann würde diesem Wunsch aufgrund der Firmenphilosophie entsprochen.
Kehren wir, nachdem der wirtschaftsliberale Einwand entkräftet ist, zum Ausgangspunkt zurück: Nämlich regelmäßig und mehrfach täglich zu beten, auch gemeinschaftlich, auch öffentlich, wenn es denn in unserer Gesellschaft möglich gemacht würde. Dies hätte zur Folge: Wer beim Beten Halt sucht, findet Halt. Wer um Orientierung und Klarheit bittet, dem wird Orientierung und Klarheit gegeben. Wer an seine Herzenstür klopft und sich fragt, was sind meine wichtigen Wünsche, dem wird die Sicht auf seine wahren Wünsche aufgetan. Und wer nicht gläubig ist in unserer Gesellschaft, macht trotzdem mit. Denn Innehalten muss ja kein Gebet sein, sondern nur eine stille Besinnung und innere Zentrierung. In einer säkularen und demokratischen Gesellschaft würde also keiner missioniert, sondern es geschähe eine kollektive Entschleunigung.
Man würde Gläubigen und Nicht-Gläubigen helfen, einen Weg nach innen zu finden. Die Folge wäre, dass alle mehr Kraft hätten “zu klären, zu ordnen, zu heilen, zu trösten, zu lieben. (J.Zink) Es würden kleine Wunder geschehen. Davon will ich eines gleich beschreiben.
Zuvor aber lassen Sie mich ein Wort sagen zu den vielen Konjunktiven wie wäre, hätte und würde, die ich bei meiner Vision benutzt habe. Ich spreche ja nicht von einer Wirklichkeit, wie es sie jetzt schon gibt. Es könnte sie geben. Aber ob überhaupt eine Mehrheit dies wollte, ist sehr, sehr zweifelhaft. Und in den islamischen Staaten funktioniert das fünfmalige tägliche Gebet nicht in der Weise, wie ich es mir vorstelle, weil das Beten zwangsweise eingebettet ist in ein Gemisch von halb demokratischen, halb autoritären oder ganz autoritären Gesellschaftsverhältnissen. Dennoch führt uns meine Vision vor Augen: Das regelmäßige Beten oder nur das Sich-auf-sich-selbst-besinnen wie im Stadtteilhaus am Osterbrookplatz in Hamburg, ... das Beten oder Sich-Besinnen öffnet den Weg nach innen. Und wer innehält, der findet innen Halt. Dies hat zur Folge, dass alle mehr Kraft hätten zu klären, zu ordnen, zu heilen, zu trösten, zu lieben. (J.Zink) Und es würden kleine Wunder geschehen.
Wunder wie im zweiten Teil unserer Predigtgeschichte beschrieben. Da besteht das Wunder darin, dass jemand, der stumm war, wieder reden kann. Er hatte einen Dämonen, der ihn verstummen ließ, erklärt Lukas bildhaft. Dämonen sind in der Bibel Sprachbilder. Sie drücken aus: Etwas Fremdes hat Einfluss auf einen Menschen. Er kann nicht mehr 'normal' sein, er kann nicht mehr er selbst sein.
Solche „Dämonen“ gibt es heute ja auch noch. Also es gibt ganz starke fremde Einflüsse, die uns hindern, wir selbst zu sein. Solche Einflüsse haben viel mit Erziehung und dem Vorbild der Eltern zu tun.
Ich denke z.B. an eine Mutter und einen Vater, die ihrer kleinen Tochter vorleben, dass man nicht streitet. Beide Eltern schlucken 'runter, was sie ärgert. Natürlich ist es richtig, dass sie keine heftigen Auseinandersetzungen vor ihrer Tochter haben, die die Tochter ja gar nicht verarbeiten könnte. Aber es gibt eben auch keine normalen Meinungsverschiedenheiten, die die Eltern miteinander im Gespräch ruhig austragen. Sie fürchten, dass aus einer normal diskutierten Meinungsverschiedenheit ein lauter Streit entstehen könnte. Sie fürchten dies zurecht, denn sie haben schon viel zu viel heruntergeschluckt und oft ertragen sie einander nur noch. So wächst die Tochter heran und lernt nicht, dass sie ein Recht hat zu sagen, was sie wirklich bewegt, was sie wirklich angeht, was sie sich wirklich von Herzen wünscht. Darum wird sie stumm. Stumm in dem Sinne, dass sie mit ihren Freundinnen nur 'Gutes' bereden kann, aber was sie ärgert, behält sie für sich. Mit ihrem Ärger und ihrer Wut verstummt sie. Sie lebt nur das „gute Gespräch“ und wird krank. Depressiv. Irgendwann ist sie so verzweifelt, dass sie eine Therapie beginnt. In den Stunden beim Therapeuten kann sie innehalten. Kann an ihre eigene Herzenstür klopfen und sich fragen: Was sind meine wichtigen Wünsche? Und ihr wird aufgetan, wie es in der Bibel heißt. Sie spürt, dass sie sich nicht mehr stumm verhalten will, wenn sie wütend ist. Sie will sagen können, was sie bewegt. Sie will Auseinandersetzungen führen können, um ihre Bedürfnisse zu vertreten. Und sie lernt es auch in den folgenden Monaten und blüht auf. Denn sie hat Mut geschöpft und wagt sich ganz anders als vorher ins Leben. Die Depression ist geheilt. Eben weil sie innegehalten hat und dadurch Halt fand. Diesen Halt konnte sie finden, weil sie mit dem Innehalten klären und ordnen konnte – wie Zink sagt, - was sie tröstet, was sie heilt, was sie liebt.
So gäbe es viele Beispiele, viele Wunder der Heilung, von denen ich erzählen könnte, wenn Menschen innehalten und an ihre Herzenstür klopfen, um zu finden, was sie sich wirklich wünschen, was sie wirklich brauchen. Freilich kann nicht jede Krankheit geheilt werden. Unser Punkt heute ist: Heilung geht nicht ohne Innehalten. Ohne Innehalten behalten die Dämonen ihre Macht. Religiös gesprochen: Ohne zu beten, können wir unsere Dämonen nicht entmachten. Das wollte Lukas klarstellen, indem er die Heilung des Stummen gleich folgen ließ auf Jesu ermutigenden Aufruf zum Beten.
Man könnte zwar vermuten: Lebensveränderung geht auch ohne Innehalten, ohne Gebet. Man nimmt sich eben vor, sich große Mühe zu geben und ganz anders zu sein. Aber nach kurzer Zeit kehrt der Alltag zurück. Kehrt vielleicht die Depression zurück oder was immer es ist, das uns bedrückt. Es wird sogar noch schlimmer als vorher. Der alte Dämon bringt sieben weitere Geister mit sich ... und es wird am Ende ärger als zuvor, wie es in unserer Predigtgeschichte ganz zutreffend heißt.
Es geht nicht ohne Beten, es geht nicht ohne Innehalten. Es geht nicht ohne Entschleunigung. Darum kam ich auf die Idee, dass das gemeinsame Gebet, die kollektive Entschleunigung, eine Hilfe sein könnte: Man ist nicht auf sich alleine gestellt. Man verliert nicht seine regelmäßige Praxis, seine Disziplin, weil es von außen täglich wieder Anstöße zum Gebet gibt, zum Innehalten. Aber so schön die Idee mit gesellschaftlich organisiertem Innehalten fünf Mal am Tag ist, taugt diese Idee für uns heute und hier nur, um uns zu verdeutlichen: Nutzen wir jeden gemeinsamen Moment zum Beten, zum Innehalten: Wie z.B. in unseren Gottesdiensten oder beispielsweise an unseren Meditationsabenden. Und ansonsten könnten wir uns so oft wie möglich am Tag eine kurze Pause gönnen, auch in der Öffentlichkeit: Wenn ich beispielsweise irgendwo vor einer Kasse in einer Warteschlange stehe, spüre ich nach unten, dass ich meine Füße fühle und mein Stehen auf der Erde bewusst wahrnehme. Ich spüre meine ganze Leibgestalt. Und mein Geist beobachtet meinen Geist. Ich bekomme dadurch mit: Was tut sich da in mir? Was denkt da in mir? Ich kann dann nicht nur geduldig in der Warteschlange stehen, ohne genervt zu sein. Sondern ich entdecke auch, welche Gedanken und Gefühle sich in mir befinden. Ich bearbeite sie dann nicht. Ich halte sie Gott hin. Sie klären und ordnen sich einfach dadurch, dass ich immer wieder in verschiedenen Situationen innehalte. Und irgendwann später dann geht mir ein Licht auf. Ganz von allein.
Es stimmt, liebe Gemeinde: Wer innehält, findet innen Halt. Er oder sie kann dann heilen, trösten, lieben. (J.Zink) Und es geschehen kleine Wunder. Amen
B. Skowron

Foto: Michael Ries/pixelio.de

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