Kirchenkritik - Kreuzkirche Lüneburg

Kreuzkirche Lüneburg
Kreuzkirche
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Kirchenkritik

Vision
Liebe Gemeinde,
 
dieser Gottesdienst auf unserem Kirchenvorplatz ist eine sehr minimierte Form eines Waldgottesdienstes. Besser würde der Begriff passen: OpenAir-Gottesdienst. Aber die meisten unter uns können ja schöne Erinnerungen in sich aufrufen an die Waldgottesdienste in Begleitung unseres Lüneburger Posaunenchores: Unter dem beschirmenden Dach der mächtigen Buchen mit ihren weit ausladenden Baumkronen haben wir uns immer sehr mit der Natur verbunden gefühlt. Da haben wir die göttliche Schöpfungskraft ganz intensiv gespürt. So wie auch beim Wandern oder Radfahren in der Natur; vielleicht beim Kanufahren oder Baden in der Ilmenau. Dabei ist der Gedanke nicht fern, dass die Verbundenheit mit der uns umgebenden göttlichen Kraft auch ohne Kirche möglich ist. Dass diese gefühlte Verbundenheit da ist auch ohne eine offizielle Religion. In unserem Fall ohne die christliche Religion. Ein in Deutschland bekannter Soul-Pop Sänger hat dieses Gefühl kürzlich in einem Interview zum Ausdruck gebracht. Er heißt Laith Al-Deen. Ob ich seinen Namen richtig ausspreche, weiß ich nicht. Er ist ein deutscher Musiker; sein Vater kam aus dem Irak. Laith AlDeen sagte: „Ich glaube, dass Glauben - abgesehen von Kirche und Religion - positiv ist.“ Mit dieser Aussage bestätigt er zum einen: Ohne Kirche und Religion kann man glauben. Beispielsweise so, dass man sich in der Natur mit der göttlichen Schöpfungskraft verbunden fühlt. Und zum anderen geht er so weit, dass er die Meinung vertritt: Glauben ist negativ, wenn Religion und Kirche mit im Spiel sind.

Diesem zweiten Punkt seiner Meinung stimme ich nicht zu. Und Sie vielleicht auch nicht. Möglicherweise ist die eine oder der andere unter uns sogar empört. Denn die Überlieferungen unserer Religion wie zum Beispiel die alttestamentlichen und neutestamentlichen Schriften inspirieren uns oft sehr. Und kirchliche Persönlichkeiten der Vergangenheit wie Martin Luther oder in der Gegenwart wie Anselm Grün nähren uns und unseren Glauben durch ihre Bücher. Sodass vielleicht viele unter uns hier sagen würden: Wir glauben, dass der Glaube durch Religion und Kirche belebt wird und positiv ist. Damit hätten wir eine Gegenposition zu Laith Al-Deen eingenommen.

Ich vermute aber, dass wir etwas verlieren, wenn wir sofort eine Gegenposition aufbauen zu Laith Al-Deen. Uns ginge verloren, die Ansichten und das Lebensgefühl kirchenkritischer und religionskritischer Menschen verstehen zu können. Und manchmal haben wir ja auch selbst kirchenkritische Gedanken. Ich bekenne mich jedenfalls zu einer kritischen Sicht auf unsere Kirchen. Ich schlage deshalb vor: Nutzen wir heute Morgen unsere Zeit dafür, dass wir zumindest verstehen, was an Laith Al-Deens Einstellung berechtigt sein könnte. Darum: Falls Laith Al-Deens Aussage empörend klingt, bitte ich uns, für einen Moment diese Empörung beiseite zu lassen. Dass Sie mit mir..., dass wir uns vergegenwärtigen, wie kirchenkritische und religionskritische Bürger und Bürgerinnen denken. Und ich verspreche, dies bringt uns weiter. Bringt uns auch weiter mit unserer Erfahrung, dass Religion und Kirche unseren Glauben beleben.


Das wohl bekannteste Argument sind die Kreuzzüge. „... am 18. November 1095 rief (Papst; d. Verf.) Urban II. den Kreuzzug aus: damit wollte er beweisen, 'dass er für die gesamte Christenheit handelt. Die weltlichen Herren ziehen im Auftrag der Kirche in den Krieg, der Papst ist ihr oberster Befehlshaber'.“ (Drewermann: Apostelgeschichte 533) Die Kreuzzüge sind ein entscheidendes Argument für die Meinung, dass Glauben nur ohne Kirche positiv ist. Jeder Papst versteht sich ja als Stellvertreter Christi auf Erden. Schrecklicher konnte Papst Urban Jesus nicht verzerren und verraten, indem er Jesu Gewaltlosigkeit verwandelte in organisierte kriegerische Gewaltanwendung.

Wie konnte es geschehen, dass Christen, „die einmal mit dem Bekenntnis zu Gewaltlosigkeit und Friedfertigkeit begonnen hatte(n)“ (Drewermann: 803), in das Gegenteil einer Gewaltherrschaft verfielen? Lassen Sie uns kurz zurückschauen: Dogmatische Streitigkeiten im dritten, vierten und fünften Jahrhundert hatten schon die christliche Sanftmut in den führenden Köpfen verkehrt in Rechthaberei und Verdammung Andersglaubender. Hinzu kam, dass die Bischöfe in Rom (Päpste) Gefallen daran fanden, im Fahrwasser der römischen Kaiser zu segeln und glaubten: Der Schulterschluss zwischen Thron und Altar würde die Kirche beflügeln. Ein folgenschwerer Irrtum! Denn der Schulterschluss zwischen Thron und Altar führte zu einem Machtdenken statt zu Duldsamkeit und Liebe. Eugen Drewermann erklärt, dass die entstehende Verbindung zwischen Thron und Altar das Christentum so veränderte, dass es nicht wiederzuerkennen war. Er schreibt: „Kaum eröffnete im vierten Jahrhundert nach Christus sich die Gelegenheit dazu, begann die Bewegung Jesu ... äußerst aggressiv gegen 'Abweichler' in den eigenen Reihen und gegen alle nicht-'christlichen' Religionen vorzugehen. ...
Die Christen waren sich (sc. damals, im vierten Jahrhundert) in fast allen Punkten uneinig außer in dem einen, dass man die heidnischen Tempel schließen, ihr Besitztum beschlagnahmen (sollte; d. Verf.) und die gleichen Waffen des Staates gegen sie und ihre Gläubigen einsetzen müsse, die vorher die Christenheit bedrängt hatten. Konstantin (… Kaiser ab 306, ab 324 Alleinherrscher) hatte die heidnischen Opfer- und Kulthandlungen behindert, aber nicht verboten; Constans (sein Sohn, ... Kaiser ab 337) verbot sie (heidn. Kulthandlungen, d. Verf.) unter Androhung der Todesstrafe; Constantius (sein anderer Sohn, ... ab 337 Kaiser von Ostrom, ab 350 Kaiser im Gesamtreich,) ließ alle Tempel des ganzen Reiches schließen, jedes heidnische Ritual einstellen. Wer dem Befehl nicht nachkam, sollte seinen Besitz und sein Leben verlieren; diese Strafen wurden auch auf Provinzstatthalter ausgedehnt, die es unterließen, dem Erlass Geltung zu verschaffen. Theodosius I. (…. Kaiser ab 379, Alleinherrscher ab 394) erklärte das Christentum zur Staatsreligion, - man hatte 'Christ' zu sein, um Bürger Roms zu sein. Von der ehemaligen 'Toleranz und Duldung' 'des Imperiums' im 'religiösen Bereich' war nichts mehr übriggeblieben.“
(Drewermann 803/804) An dieser geschichtlichen Darstellung erkennen wir, wie eine Gier nach Macht die führenden Denker und Gestalter der Kirche in ihren Bann zog durch die Politik der Kaiser und dass damit auch das allgemeine kirchliche Bewusstsein immer mehr geprägt und dabei verändert wurde.
Ich könnte jetzt durch die Jahrhunderte der Kirchengeschichte eilen und viele Handlungen benennen, die entweder aus Angst oder Gier heraus zu unmenschlichen Taten geführt haben: angefangen bei den Ketzerprozessen und Hexenverbrennungen der beginnenden Neuzeit bis hin zu Missbrauch in unserer jüngsten Geschichte oder zurzeit zu ängstlichen kirchlichen Verurteilungen von Menschen, die gleichgeschlechtlich orientiert sind..... Alles dies ist mit dem Christus, der das Herz Gottes auf Erden ist, nicht zu vereinbaren. Es ist die Fratze ängstlicher und egozentrierter Menschen, die uns im Gewande der Kirchen anschaut. Und ich finde es wichtig, diese Kirchenkritik zu verstehen und anzunehmen statt zu beschwichtigen oder sogar abzuwehren. Ich kann nachvollziehen, dass Laith Al-Deen zu dem Schluss kommt: „Ich glaube, dass Glauben - abgesehen von Kirche und Religion - positiv ist.“

Seine Schlussfolgerung ist aber nicht meine, wie ich eingangs sagte. Und das hat Gründe! (1) Ich kann nicht auf Religion und Kirche verzichten, weil die Natur mir nur sehr begrenzt Auskunft gibt, wer Gott dem Wesen nach ist und was ein einfühlsames Menschsein ausmacht. Die Natur ist wunderschön und ich fühle mich im Einssein mit dieser Schönheit verbunden mit der göttlichen Schöpfungskraft. Aber die Natur ist oft ohne Mitgefühl: Der Stärkere oder der Klügere gewinnt. Das ist alles, außer dass - beispielsweise - ein Elefant sich mit seiner Familie ein Leben lang verbunden fühlt. Dies übersteigt aber die Fähigkeiten von anderen Tieren wie etwa von Haien oder Krokodilen. Es bleibt im Großen und Ganzen bei: Der Stärkere oder der Klügere gewinnt. Jedoch möchte ich damit nicht mein Leben ausgefüllt sehen: Der Stärkere oder der Klügere ist obenauf. Da wäre ich recht chancenlos.

(2) Ich möchte nicht auf Religion und Kirche verzichten, weil sie mit mündlicher und schriftlicher Tradition über 2-3000 Jahre überliefert haben, dass nicht das Starksein die Menschheit voranbringt. Sondern achtsam und sanft, liebend und verständnisvoll öffnen wir einen Lebensraum, in dem auch diejenigen ihre Chance erhalten, die nicht dominant und hoch begabt sind. Denn alle sind Kinder Gottes. Das hat der Christus vorgelebt. Darüber haben wir ja schon letzten Sonntag nachgedacht.

(3) Ich möchte nicht auf unsere christliche Religion und Kirche verzichten, weil - bei aller Asche, die herumstiebt - der Lebensfunke glüht. Luther hat diesen Funken so überliefert: „Bei Christus kann man Gott nicht verfehlen.“ Ich kann Gott verfehlen in der Natur, wenn ich mich darauf einlasse: Das Starke oder Kluge darf überleben. Bei Christus aber lerne ich, wenn er mir wichtiger ist als selbstbezogene bürgerliche Werte und Moral: Ich finde Gott, in dem ich die Liebe entdecke: die Liebe zu mir selbst, die Liebe zu anderen, die Liebe zu Kreatur und Natur.

(4) Ich möchte nicht auf unsere christliche Religion und Kirche verzichten, weil schon im Gottesbild des Alten Testamentes und bei Christus wirklich-leben-können gleichbedeutend ist mit frei werden. Wenn Jesus zu Menschen sprach, wollte er, dass sie ihren Geist befreien können. Weg von 613 Anweisungen der Rabbinen, was man im Leben zu beachten hat, um Gott zu gehorchen, … hin zu: Folge deinem Herzen und lebe, was menschlich hilfreich und gut ist. - Und jede seiner Heilungen zielte darauf, Menschen aus ihren Leiden zu befreien, damit sie ihr Leben entfalten können.

(5) Ich möchte nicht auf unsere christliche Religion und Kirche verzichten, weil sie mir Gemeinschaft bietet. Es trägt mich nicht vollends, aber doch ein gutes Stück, dass wir zusammenkommen und uns begegnen. Das ist für mich eine Freude. Und ein befruchtender Lernprozess, nämlich: Wie gehe ich damit um, dass wir alle sehr unterschiedlich sind mit Begabungen und mit Begrenzungen? Entweder macht es mich glücklich, dass wir sehr ähnlich denken und empfinden. Oder es bringt mich weiter, Unterschiede auszuhalten, indem ich lerne, sie sein zu lassen.


(6) Ich möchte nicht auf unsere christliche Religion und Kirche verzichten, weil wir Solidarität leben, so gut wir es vermögen. Ob es das Kümmern und Sorgen für Menschen ist, die hier am Bockelsberg Unterstützung und Hilfe brauchen: Während der Monate dieser Pandemie haben wir finanzielle Unterstützung ausgezahlt wie nie zuvor. Mehr noch: ... alltägliche Hilfen geleistet, um Menschen nicht allein zu lassen. Oder ob es die diakonische Hilfe ist, die über uns hinaus der Kirchenkreis leistet oder unsere Landeskirche. Es ist alles gelebte Solidarität.

(7) Ich möchte nicht auf unsere christliche Religion und Kirche verzichten, weil wir Räume haben und weil Menschen da sind, um ein offenes Gespräch zu führen. Wegen des Profils unserer Gemeinde erfahren Menschen: Hier in Kreuz weht ein offener, freundlicher Geist.

(8) Ich möchte nicht auf unsere Kirche als Pianokirche verzichten, weil wir Menschen Gelegenheiten bieten, mit kulturellen Eindrücken wunderbare, erfüllende Stunden zu erleben: Die Pianokirche ist in Lüneburg seit fünf Jahren ein neuer Ort der Begegnung geworden mit Musik, mit Malerei, mit Filmnächten.

(9) Ich möchte nicht auf Religionen verzichten, weil ich aufgrund der tiefen Erkenntnisse in anderen Religionen gewahre, wie mich ihre Weisheiten bereichern, um meinen Lebensalltag zu meistern. Besonders beschenkt mich der Buddhismus, auch Judentum und Hinduismus haben weise Lehrer, die Gastfreundschaft der Muslime beeindruckt mich. Leider habe ich oft nicht die Zeit, um die Weisheiten anderer Religionen zu studieren.

Ich könnte jetzt noch weitere Gründe aufzählen, warum mir Religion und Kirche wichtig sind: (10) Stille in Meditation oder offener Kirche. Und vieles mehr. Aber diese Predigt soll nicht zu lang werden. Sonst sitzen wir hier noch in einer halben Stunde. Ich hoffe, es ist deutlich geworden, warum ich Laith Al-Deens Meinung nicht teile: Ich glaube, dass Glauben ohne Kirche und Religion positiv ist. Aber ich möchte betonen, dass ich sehr ernst nehme, was hinter kirchenkritischen und religionskritischen Ansichten steht. Die wirklich wichtigen Punkte teile ich und vertrete diese Kritik. Ich vermute, es geht Ihnen ähnlich! Ich glaube aber, es wird sehr vielen Menschen helfen, wenn wir persönlich existenziell darüber sprechen: Was gibt uns Religion und Kirche? … und dass uns Menschen auch abspüren können, was uns Religion und Kirche geben. AmenWas Christus uns schenkt, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft im Hl. Geist sei mit uns allen. Amen
 

Foto: by_S.  Hofschlaeger_pixelio.de
Bild: Vie de Saint-Louis par Jean de Joinville: prise de Damiette pendant la Croisade/Wikimedia commons

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Zusammenstellung: J.Koke


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