Wo ist Gott?
Vision
Gottesdienst mal anders, Predigt zum Lied "Wo ist er?" von Vicky Leandros, gesungen vom Chor "Neue Töne"
Liebe Gemeinde,
es gibt wohl zwei Grundeinstellungen im Leben. Die einen sagen: Es lohnt nicht, etwas über Gott herausfinden zu wollen. Er ist eine Erfindung, ein Hirngespinst, eine Sehnsucht des Menschen; des Menschen, der im Weltenraum nicht einsam sein mag. Darum erhofft er sich einen Gott, der der Urgrund des Ganzen ist und der das All und den Sinn im Leben zusammenhalten soll. Dies meinen die einen.
Die anderen behaupten mit Victor Hugo: „Nichts zu glauben ist unmöglich.“ Sie glauben, dass es einen Gott gibt. Aber sie fragen auch: Wo genau ist er zu finden? Vicky Leandros singt: „Wo ist Er? Sag wo! Wo ist Er, an den die Menschen glauben, den sie nennen Herrn der Welt?“ Diese Fragen wünschen herbei, dass man Gott sehen könne. Der Schriftsteller Peter Handtke spricht es ganz direkt aus: „Gewiß erwarte ich keine Gotteserscheinung. Aber ich erwarte doch mehr zu sehen, als ich im Augenblick sehen kann.“ Also Peter Handtke will Gott nicht leibhaftig sehen. Dieser Wunsch wäre ihm zu plump. Aber er möchte doch mehr erfahren mit Gott. Mehr sehen von seiner unsichtbaren Gegenwart in dieser Welt.
Diesen Wunsch hegen viele. Wir selbst ja auch, wenn wir nicht zu dem Teil der Menschen gehören, die Gott als Hirngespinst einstufen. Ich glaube, wir können mehr erfahren mit Gott, wir können mehr sehen von seiner unsichtbaren Gegenwart in dieser Welt, sofern wir die Blickrichtung ändern. Wenn Vicky Leandros singt: „Sag, wohin muss ich gehen! Wie kann ich Ihn sehen, dem ich so viel sagen will, den ich so viel fragen will?“, dann würde ich antworten: Du musst nirgendwo hingehen, um Gott zu sehen oder anzutreffen. Bleib stehen. Ändere die Blickrichtung! Schau auf dich selbst. Bist du selbst eigentlich da, ganz präsent, wenn du fragst, ob Gott da ist?
Diesen Rat „Bleib stehen. Schau auf dich selbst. Sei selbst ganz da!“ … diesen Rat gebe ich aus einem bestimmten Grund. Es ist eigentlich eine biblische Beobachtung. Schon in den ersten Bibelgeschichten nähert sich Gott den Menschen … und nicht umgekehrt. Schon in den ersten Bibelgeschichten fragt Gott nach dem Menschen und nicht der Mensch nach Gott. Erinnern Sie die Geschichte mit Adam? Gott fragt ihn „Wo bist DU?“ Später fragt er auch Abraham „Wo bist DU?“. Und immer kommt es zu einer Begegnung mit Gott – also nicht leibhaftig, sondern spirituell - … immer kommt es zu einer Begegnung mit Gott, wenn der Mensch antwortet. „Hier bin ich!“ Auf hebräisch heißt dies „Hineni!“ Adam oder Abraham antworteten: Hineni! Übersetzt: Siehe, hier bin ich oder ich bin hier, siehe, ich bin jetzt da. Anders gesagt: Ich bin in mir, ich bin unabgelenkt, ich tanze nicht auf mehreren Hochzeiten, ich bin jetzt ganz präsent.
Und wo ist in diesem Moment Gott? Gott ist immer schon da. Wie haben es vorhin in der Psalmlesung gehört: 7 Wohin soll ich gehen vor deinem Geist, und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht? 8 Führe ich gen Himmel, so bist du da; bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da. 9 Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, 10 so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten. Gott ist immer schon da. Dazu muss kommen, dass ich selbst auch da bin, ganz präsent in mir und in der Situation, in der ich mich befinde. Und dann kann es sich ergeben, dass ich Gottes Gegenwart wahrnehme. Dass ich Gottes Gegenwart wahrnehme, ob ich nun ungeteilt aufmerksam ein Buch lese, am Spülbecken abwasche, in der Stille schweige, ein Beet im Garten umgrabe oder Blütenduft am Rosenstrauch einatme. Ich kann gewahren, dass ich nicht allein bin. Gott ist da. Gott ist da mit seiner Allgegenwart und Nähe. Franz von Sales sagt:
Nicht nur an dem Ort, wo du bist, ist Gott,
er ist auch ganz besonders in deinem Herzen
und in der Tiefe deiner Seele,
er belebt und beseelt dich
mit seiner göttlichen Gegenwart, er ist da.
Natürlich hätten wir Gottes Gegenwart in unserem Herzen und in unserer Seele gern greifbar und irgendwie auch verfügbar. Aber Gott lässt sich nicht fassen: Weder gedanklich noch in einer konkreten Begegnung. Gott überschreitet alles Fassungsvermögen und lässt sich auch nicht streicheln wie ein Hund, obwohl unser kindliches Habenwollen Gott gern verfügbar hätte. Gott bleibt darum immer auch irgendwie fremd. Wir können nur darauf vertrauen: “Gott wohnt, wo man ihn einlässt” (jüd. Weisheit).
Und wo Gott wohnt, gibt es Momente - nicht berechenbar, aber es gibt sie. Momente, in denen ich selbst da bin in mir. Aufmerksam und nicht in tausend Gedanken oder Tätigkeiten verstrickt - … da gibt es Momente, in denen wir in Herz und Seele hören, dass Gott sich mitteilt.
GOTT sagt ganz leise: In das Dunkel deiner Vergangenheit und in das Ungewisse deiner Zukunft,
in den Segen deines Helfens und in das Elend deiner Ohnmacht lege ich meine Zusage: ICH BIN DA.
In das Spiel deiner Gefühle und in den Ernst deiner Gedanken, in den Reichtum deines Schweigens und in die Armut deiner Sprache lege ich meine Zusage: ICH BIN DA.
In die Fülle deiner Aufgaben und in deine leere Geschäftigkeit, in die Vielzahl deiner Fähigkeiten und in die Grenzen deiner Begabung lege ich meine Zusage: ICH BIN DA.
In das Gelingen deiner Gespräche und in die Langeweile deines Betens, in die Freude deines Erfolges und in den Schmerz deines Versagens lege ich meine Zusage: ICH BIN DA.
In die Enge deines Alltages und in die Weite deiner Träume, in die Schwäche deines Verstandes und in die Kräfte deines Herzens lege ich meine Zusage: ICH BIN DA UND BIN DEIN. (Verfasser unbekannt)
Wir könnten Gott antworten, wie Nikolaus von der Flüe es in einem sehr berühmt gewordenen Gebet getan hat. Wir könnten sprechen in unserem Herzen, jede und jeder für sich:
„Mein Herr und mein Gott, nimm alles von mir, was mich hindert zu dir;
gib alles mir, was mich fördert zu dir; nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen dir.“
Klaus Künkel, ein Theologieprofessor und Meditationslehrer, hat dieses Gebet einmal so ausgelegt:
(Was mich hindert zu dir:) „Meine Schwächen, Leiden, Niederlagen, wenn sie mich von (dir,) Gott, trennen, meinen Stolz, meine Eitelkeit, meinen Ehrgeiz, nimm von mir, was mich hindert zu dir. Und wenn es meine Klugheit ist, und wenn es der Stolz auf meine Leistung ist, auf meinen Besitz, auf meine Gesundheit, und wenn es meine phantastisch richtige Theologie ist, wenn es mich hindert zu dir, nimm es von mir. Ich lasse es. Ich lasse auch meine Gottesvorstellungen, in denen ich mir einbilde, Gott zu haben. Gott ist nicht zu haben.
Und was mich fördert zu dir, gib mir: Einsicht, Geduld, Demut, Glauben, Liebe, Hoffnung. Es kann auch sein, dass meine Niederlagen und Leiden mich fördern zu (dir),Gott, zu dem, was ich sein und werden könnte vor (dir und) mit (dir), Gott.
Schließlich: Nimm mich mir, entnimm mich mir. Wie steht es mit meinem Ich? Wo bleibt es, wenn Gott mich mir entnimmt?“
Mein Ich wird zum Dienst bereit. Vielleicht werde ich keine bedeutende Persönlichkeit, wie Nikolaus von der Flüe es wurde, der 1481 die Schweiz vor einem Bürgerkrieg rettete. Aber mit meinem Dienst kann ich allen Gutes tun, die meinen Rat brauchen, mein Verständnis, auch meine solidarische Kritik, meinen Mut, mein Mitgefühl. Und auch in diesem meinem Tun kann ich entdecken, dass Gottes Zusage aufleuchtet: ICH BIN DA.
Vicky Leandros fragt: „Sag, wohin muss ich gehen! Wie kann ich Ihn sehen, dem ich so viel sagen will, den ich so viel fragen will?“ Geh nirgendwo hin. Bleib stehen. Schau auf dich selbst. Sei selbst ganz da! Und sprich in deinem Herzen: Hineni. Ich bin hier, siehe, ich bin jetzt da. Und du weißt im tiefen Grund deiner Seele: Gott ist immer schon vor dir da. Amen
B. Skowron